Aus : Schubert /Schwill, 2004, S. 233-239

 

8.3 Unterrichtsmittel

 

Da die Auseinandersetzung um den Medienbegriff kein klares Ergebnis zeigt, verwenden wir den Begriff Unterrichtsmittel im folgenden Sinne:

 

"Unterrichtsmedien sind ‚tiefgefrorene' Ziel-, Inhalts- und Methodenentscheidungen. Sie müssen im Unterricht durch das methodische Handeln von Lehrer und Schüler wieder ,aufgetaut' werden" (Meyer, 1994 I, S. 150).

 

Die wechselhafte Geschichte der Unterrichtsmittel brachte schon eine ganze Reihe von Entwicklungen hervor, von denen sehr viel erwartet wurde, die aber nur Ent­täuschung zurückließen. Je mehr Technik zum Einsatz kam um so höher war die Wahrscheinlichkeit, dass der Lernprozess gestört statt gefördert wurde. Wir begin­nen mit einer Bestandsaufnahme. Tafel, Schreibwerkzeug, Schulbuch, Schulheft, Arbeitsblätter, Modelle als Anschauungsmaterial besitzen eine lange und äußerst erfolgreiche Tradition in allen Fächern. Tageslichtprojektor und Folien flexibilisierten die Tafelarbeit und erlaubten die Vorbereitung und Wiederverwendung komplexer Tafelbilder. Rechner und Beamer lösen Projektor und Folien ab. Zur Wiederverwendbarkeit kommen Vorteile wie Aktualisierbarkeit, Erweiterbarkeit, Strukturierbarkeit. Landkarten, Nachschlagwerke für Formeln, Vokabeln und Grammatik, Experimentiergeräte, Baukästen, Sportgeräte, Musikinstrumente, No­tenblätter, Pinsel, Farben, Bastelmaterial, Schulgarten, Schulzoo sind an bestimmte Fächergruppen gebunden. Sprachlabore erwiesen sich als Übergangserscheinung. Bildungsfernsehen und Lehrfilme werden wenig eingesetzt, da sie nicht an eine Lerngruppe anpassbar sind. Nach dem Misserfolg von CUU (computerunterstützter Unterricht) werden zurzeit multimediale Präsentationen von Inhalten über Rech­nernetze und auf Datenträgern verteilt und mit überhöhten Erwartungen an den Lernerfolg angewendet. Multimedia steht hier für eine Interaktionsmöglichkeit mit einer Verknüpfung verschiedener Medien (Video, Audio, Abbildungen, Texte), wird aber oft fälschlicherweise zur Bezeichnung für jedes digitale Dokument ver­wendet. Mit dem Begriff "Neue Medien" wird der Bedarf an informatischer Bil­dung bei Entwicklern und Anwendern solcher Präsentationen verschleiert. Als Resultat

 

"... entsteht im Internet eine überwiegend textlastige Welt" (Schulmeister, 2001, S. 357). Wir nennen den Rechnereinsatz in der Bildung "Lernen mit Informatiksystemen" und gehen auf die Konsequenzen für den Informatikunterricht in 8.5 ein.

 

Hier interessieren die besonderen Anforderungen an Unterrichtsmittel für die informatische Bildung und die Gründe für deren unausgewogene Entwicklung. Ein Grund liegt darin, dass der Lerngegenstand des Informatikunterrichts seit ca. 30 Jahren auf dem Konstruieren von Algorithmen und Datenstrukturen liegt und sich zunehmend mehr hin zur Software-Technik verschiebt. Das führte zu einer vereng­ten Sicht auf die Unterrichtsmittel, die man dafür einsetzt, Programmiersprache und zugehörige Programmierumgebung.

Die Auswahl der Programmiersprache blieb stets Diskussionsschwerpunkt, da deren große Bedeutung für die informatischen Denkweisen im Unterricht aner­kannt ist. Über viele Jahre förderte der Konsens, das prozedurale programmier­sprachliche Denkschema zusammen mit der Programmiersprache Pascal für die Einführung in die Informatik zu verwenden, die Veröffentlichung von ausgezeich­neten Lehrbüchern und Unterrichtsbeispielen6 dazu. Trotzdem stießen die Lehrbü­cher bei den Lehrern auf starke Vorbehalte.

Das Vorurteil, Informatikunterricht habe einen so dynamischen Lerngegenstand, dass sich Lehrbücher prinzipiell nicht dafür eignen, den Lernprozess zu unterstüt­zen, ist weit verbreitet. Das Argument kann nur akzeptiert werden, soweit es Be­sonderheiten einer speziellen Software-Version (Programmiersprache oder Pro­grammierumgebung) betrifft. Verständlich wird das Vorurteil aber mit Meyers Hinweis auf die festgelegten Ziel-, Inhalts- und Methodenentscheidungen, die Unterrichtsmittel mit sich bringen. Offenbar spielen dabei die Aufgabenklassen und Programmbeispiele im Informatikunterricht eine lehrmethodische und kogni­tive Schlüsselrolle, die sich der Lehrer nicht aus der Hand nehmen lässt. So ent­wirft und programmiert jeder Lehrer am liebsten alle Unterrichtsmittel selbst. Das hat Konsequenzen. Es fehlt ein Markt für professionelle Unterrichtsmittel, wie ihn andere Fächer vorweisen können.

 

"Seitens der Verlage wird argumentiert, das breite Spektrum des Zielpublikums, der permanente Wandel des Faches Informatik sowie die uneinheitlichen Lehrpläne würden eine vernünftige ver­legerische Tätigkeit verunmöglichen" (Hartmann/Nievergelt, 2002, S. 468).

 

Die Lehrer sind stark überfordert mit der Vorbereitung ihres Unterrichts. Denn es besteht ein gravierender Unterschied, ob man vorbereitete Unterrichtsmittel an­wendet, ergänzt, modifiziert oder erst selbst entwickeln muss. Vielen Unterrichts­beispielen sieht man den Eigenbau auch an. Sie sind keinesfalls so robust, flexibel und informatikdidaktisch geeignet, wie ihre Entwickler meinen. Damit fehlt auch eine vergleichbare Ausgangssituation für die empirische Unterrichtsforschung, die den Lernerfolg und lehrmethodische Handlungsmuster evaluiert.

 

PASCAL wurde als Unterrichtssprache nicht abgelöst, weil sie Defizite aufwies, sondern weil keine gepflegte Programmierumgebung für die inzwischen ausge­wechselten Rechner im Informatiklabor verfügbar war. Damit kam es zu Verun­sicherung und der Suche nach Nachfolgern. Das fehlende Unterrichtsmittel führte also zur Ablösung eines sehr erfolgreichen Lernkonzeptes. Aus anderen Unter­richtsfächern ist eine solche Entwicklung nicht bekannt. Allerdings können Unter­richtsmittelhersteller auch die Ablösung überholter Konzepte hemmen. Mit der Entwicklung der Fachwissenschaft Informatik entstanden immer komplexere Werkzeuge für die professionelle Software-Entwicklung. Da viele dieser Systeme für Bildungsinstitutionen kostenfrei sind, werden sie im Informatikunterricht an­gewendet. Dabei kommt es zu Zielkonflikten (Brinda/Schubert, 2003). Im Infor­matikunterricht eignen sich professionelle Software-Entwicklungswerkzeuge prin­zipiell nicht zum Lernen aus Fehlern. Die Arbeitswelt erfordert Hilfsmittel für die zügige Produktentwicklung, die Fehler verhindern. Genau diese Fehler sind für Anfänger hilfreich und wichtig. Außerdem wird viel Unterrichtszeit mit der Orien­tierung im funktionalen Netz der Systemmöglichkeiten gebunden. Die Benut­zungsoberflächen mögen einfach scheinen, der Funktionsumfang der Systeme ist es nicht. Er steht auch in keiner abgestimmten Beziehung zu den Unterrichtszielen. Wir sehen folgenden Ausweg aus der Fehlentwicklung:

 

1.    Für die Umsetzung eines Gesamtkonzeptes der informatischen Bildung (vgl. Kapitel 2) muss eine breitere Palette an Unterrichtsmitteln zum Einsatz kom­men, z.B. ausgewogenere Lehrbücher, gegenständliche Modelle, Geräte und Materialien für Experimente, Explorationsmodule.

2.    Die informatische Bildung hat einen sehr großen Nachholbedarf bei der Ent­wicklung und Anwendung an Unterrichtsmitteln, die traditionell erfolgreich sind:

     Lehrbücher sind ausgewogener zu strukturieren, indem wesentliche Klassen von Informatiksystemen (z.B. Rechnernetze und verteilte Systeme, Informa­tionssysteme, Rechnerarchitektur und Betriebssysteme) als Lerngegenstand aufgenommen werden.

     Wesentlich mehr gegenständliche Modelle für den enaktiven Zugang zu In­formatikprinzipien sind von Unterrichtsmittelherstellern zu entwickeln. Leh­rer lieferten bereits gute Vorschläge dafür.

     Informatikunterricht erfordert Experimente (Steinkamp, 1999). Dafür sind

geeignete Unterrichtsmittel zu gestalten (vgl. Abschnitt 8.4).

3. Die Nachhaltigkeit im Bereich "E-Learning" und "Blended Learning" muss mehr gefördert werden über gemeinsame Server und Publikationen7. Die Di­daktik der Informatik besitzt eine ausgezeichnete Position unter allen Fachge­bieten, da sie Informatiksysteme als Gegenstand und Mittel der Bildung er­forscht. Sie kann übertragbare Forschungsergebnisse für das Lernen mit Informatiksystemen entwickeln und bereitstellen (Schubert, 2003). Wir emp­fehlen Explorationsmodule (vgl. Abschnitte 5.5 und 8.5).

 

Während viele Unterrichtsfächer verstärkt über den Einsatz von Informatiksyste­men nachdenken, leidet der Informatikunterricht seit Beginn unter einem gravie­renden Mangel an traditionellen Unterrichtsmitteln zum "Begreifen" im wahrsten Sinne des Wortes. Gegenständliche Modelle können die komplizierten und häufig in Hard- und Software verborgenen Prozesse und Prinzipien veranschaulichen. Da sie fehlen, kommt der Lernprozess in eine gefährliche Schieflage. Das Abstrakti­onsvermögen der Schüler wird stark überfordert. Sie setzen sich mit sehr intensiv mit Entwürfen und künstlichen Systemen auseinander, ohne ausreichende Veran­schaulichung der Abläufe.

Gute Erfahrungen beim Einsatz von traditionellen Unterrichtsmitteln liegen zum Thema Sortierverfahren vor. Zum Einsatz kommen Spielkarten. Die Schüler bilden mit einer kleinen Auswahl an Karten beliebige Testdatensätze und sortieren von Hand. Das Gespräch darüber führt zum Bewusstmachen der Algorithmen für das Sortieren im Rechner. Das entdeckende Lernen ist hier fest mit dem Manipulieren der Objekte verbunden. Vorteilhaft ist, dass mit sehr einfachen Materialien sehr komplexe Algorithmen vollzogen werden.

Ebenfalls zur Veranschaulichung der Sortierverfahren wurden von Schülern kleine mechanische Maschinen gebaut, die es ermöglichen, Kugeln zu sortieren. Meist werden die Komponenten des Algorithmus mit einen Siebmechanismus (Löcher unterschiedlicher Größe in einem Brett) und bei Bedarf einem Umfüllme­chanismus (Verbindung der Auffangbehälter über Kugelbahnen) repräsentiert. Nachteilig ist der hohe Fertigungsaufwand. Und die Mechanik setzt der Veranschaulichung komplexer Algorithmen sehr schnell Grenzen.

Ein Aufruf in Verbindung mit der GI-Fachtagung "Informatik und Schule -INFOS'99" brachte neue Anregungen. Die Preisträger des Wettbewerbs "Unter­richtshilfen Informatik"8 wurden nach folgenden Kriterien ermittelt:

 

     Originalität des gewählten Problems und der Lösungsmethoden,

     Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung,

     Einsatzfähigkeit im Schulunterricht,

     technische Ausführung des Unterrichtsmittels.

 

Prämiert wurden unter anderem Arbeiten zur Veranschaulichung:

     der Datenspeicherung mit Behältern und einem beschriftbaren Band aus durchsichtigem Plexiglas:

o   Variablenkonzepts der Informatik mit Name, Wert und Datentyp,

o   Speicherbelegung im Arbeitsspeicher eines Rechners,

o   Datenstrukturen LIFO (last in, first out) und FIFO (first in, first out)

      dynamische Datenstrukturen mit Zeigerkonzept mit zusammensteckbaren Bausteinen,

      der Implementierung des Datentyps Integer und Überlauf von Speicherzel­len mit zwei transparenten Scheiben für den Tageslichtprojektor.

 

Es mögen noch unentdeckte Unterrichtsmittel im Einsatz sein, die die Autoren nicht kennen. Insgesamt ist das Problem aber bekannt und nicht gelöst. Eine Alternative zu den fehlenden gegenständlichen Unterrichtsmitteln bilden Rollenspiele. Die Schüler übernehmen dabei die Aufgabe einer Teillösung oder einer Rechnerkomponente und beobachten z.B.,

 

     wie die Daten für Ein- und Ausgabeprozesse bereitgestellt werden.

     wie die Objekte in einem objektorientierten Programm zusammenarbeiten, z.B. (Diethelm/Geiger/Zündorf, 2002).

     wie ein Rechnernetz die Daten über Protokolle austauscht.

     welche Stationen eine E-Mail vom Sender zum Empfänger durchläuft.

 

Obwohl für das Spiel mit beschrifteten Karten für Daten oder Signale unterstützt werden kann, bleibt nach dem Rollenspiel viel Schreibaufwand, um die Beobach­tungen zu strukturieren und zu bewerten. Eine Videoaufzeichnung könnte die Flüchtigkeit des Spiels abwenden. Der Zeitaufwand für Spiel und Reflektion wird dadurch aber nicht verringert.

Ein besonders interessantes Beispiel für die kooperative Gestaltung von Unter­richtsmitteln ist die von Lehrern in Nordrhein-Westfalen gemeinsam entwickelte, informatikdidaktische Klassenbibliothek für OOM (NRW, 2003) für verschiedene objektorientierte Programmiersprachen. Sie wird sowohl im Informatikunterricht als auch in der Lehrerfortbildung angewendet und über den Landesbildungsserver NRW "Learn Line"9 bereitgestellt. Es existieren passende Unterrichtsbeispiele. Schüler sollen lernen, selbst Bausteine für eine Klassenbibliothek für OOM zu entwickeln. Einen Beitrag zur Entwicklung von Unterrichtsmitteln leisten die Fachgruppen Di­daktik der Informatik an Hochschulen. So entstand z.B. im Rahmen einer Diplomar­beit ein Editor für Struktogramme als Fallstudie (Linkweiler, 2002), der unmittelbar nach der Fertigstellung in Schulen zur Anwendung kam. Dabei bringt die Betreuung solcher Arbeiten durch Lehrer die berufspraktische Erfahrung ein. Informatiker der Hochschulen engagieren sich ebenfalls bei der Entwicklung von Unterrichtsmitteln. Ein System, das bereits in vielen Schulen angewendet wird, ist "Kara: Lemumgebung rund ums Programmieren" zum Modellieren endlicher Automaten, die an der ETH Zürich entwickelt wurde10 (Nievergelt, 1999), (Reichert/Hartmann/Nievergelt, 2000), (Hartmann/Nievergelt, 2002).

Die Auswertung von Experteninterviews (eine qualitative empirische Studie) brachte erwartete und erstaunliche Ergebnisse (Humbert, 2003). Folgende Beispie­le für erfolgreiche Unterrichtsmittel wurden von den Experten genannt:

 

     Programmablaufpläne sind nach wie vor wertvolle Unterrichtsmittel. Die Lehrer schätzen die gute Übersichtlichkeit, Änderbarkeit und Verständlich­keit auch für Sekundarstufe I.

      Beim prädikativen Modellieren kommt das Prozedurenmodell (call, exit, fail, redo) zur Anwendung (vgl. Kapitel 4, Abb. 4.10).

      Objektorientierung wird mit CRC-Karten (class — responsibilities - collaborators) unterstützt. Die Karten werden mit Magneten an der Tafel befestigt. In der Diskussion können Beziehungen leicht eingezeichnet bzw. geändert werden.

      UML wird als Entwurfssprache und zur Veranschaulichung der Objektorien­tierung angewendet.

      Mit Papierkopien von Funktionen lässt sich die Rekursion veranschauli­chen. Diagramme stellen Rekursionstiefe und Parameterkonzept dar.

      Struktogramme sind häufig verwendete Mittel zur Veranschaulichung. Über die komplizierte Änderbarkeit wurde geklagt.

 

Unterrichtsmittel für das systematische Testen wurden von den Experten ge­wünscht.